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Liebe Emily Sarane, von Marc Cohn


"Dear Emily Sarane", by Marc Cohn, pp. 63-72
Songs Without Rhyme, Prose by celebrated songwriters, edited by Rosanne Cash, Hyperion, New York, 2001
Das Buch kann man nur noch antiquarisch bekommen, z.B. bei AMAZON.DE oder EBAY
Übersetzung ins Deutsche von Volker Pöhls

Marc Cohn wurde am 5. Juli 1959 geboren, seine Tochter Emily Sarane am 28. Oktober 1994. Aus dem Text geht hervor, dass Emily bei der Entstehung der Textes fünfeinhalb Jahre alt war und dass Marc Cohn gerade Geburtstag hatte. Daraus folgt, dass der englische Text um den 5. Juli 2000 herum entstanden sein muss.

Liebe Emily Sarane,
heute Abend hast du auf der Kante eines rollbaren Bettes in einem Hotel in Kalifornien gesessen und auf meiner Gitarre gespielt. Du hast dir ein Lied über einen sprechenden Schuh namens Bob ausgedacht:
ICH HATTE EINMAL EINEN SCHUH NAMENS BOB
(bei dem Wort "Bob" geht deine Melodie eine halbe Oktave nach oben)
DER SCHUH SAGTE "WARUM HAST DU MICH WEGGEWORFEN?"
(viel Bewegung deiner Finger hoch und runter auf dem Griffbrett, während du nach unten klampfst - einmal pro zwei bis drei Wörter)
ICH HABE GESAGT: "ICH WUSSTE NICHT, DASS DU EIN SPRECHENDER SCHUH BIST. HÄTTE ICH GEWUSST, DASS DU SPRECHEN KANNST, BOB, DANN HÄTTE ICH DICH NIIIIIIIIEEEEMAAAAALS WEGGEWORFEN…"
Das hast du eine Zeitlang gemacht, bis du eine herrlich heisere hohe Note erreicht und gehalten hast, und dann machtest du weiter mit deinem nächsten Song:
JETZT GEHT'S WEITER MIT … (ein Name wird eingesetzt)
WIR SINGEN … (Titel des nächsten Liedes wird eingesetzt)
Wir lachten alle, applaudierten und feuerten dich an. Das galt sogar für deinen 9jährigen Bruder. (Das war fast ein Wunder, denn an diesem Punkt in eurem Leben ging das meiste, wenn nicht sogar alles von deinem Charme und deiner Niedlichkeit völlig an ihm vorbei.)

Der nächste Song hieß "Pappas Punish-mint". [Bestrafung - VP] Zunächst war es ein Song über väterliche Disziplin, der irgendwann überging in eine Ode an Peppermint Patty [Figur aus der Comicserie "Die Peanuts", peppermint = Pfefferminz - VP] und mit einem improvisierten Wortspiel zwischen punish-MINT und pepper-MINT endete - immer noch einmal gesungen bis zum dramatischen Crescendo mit einem großen Flamenco-ähnlichen Tusch auf der Gitarre.
Du warst heute Abend besonders aufgekratzt, weil du den ganzen Tag in der Sonne und am Meer verbracht hattest und den ganzen Abend Schokoladentorte gegessen hattest, die von der Hotel-Concierge hochgeschickt worden war aus Anlass des Geburtstags deines alten Herren. Vielleicht ist es, weil ich Geburtstag habe, dass ich das Gefühl habe, ich muss das heute Abend mal aufschreiben, keine Ahnung. Aber es passiert viel zu oft, dass ich mich am Ende des Tages an etwas erinnern möchte, das du gesagt oder getan hast - ein Blick, eine Geste, eine Frage, die du früher am Morgen oder Nachmittag gestellt hast - und es ist weg. Heute Abend wollte ich ein wenig davon niederschreiben, wer du zur Zeit bist, im Glanze deiner fünfeinhalb Jahre. Es ist ein Versuch, diesen winzigen Moment für dich zu erhalten - ihn abzusperren und zu schützen vor all dem täglichen Ansturm von Telefonanrufen, Faxen und was es zum Abendessen geben soll.
Wo wir gerade vom Abendessen sprechen - ich habe mit dir ein kleines Problem in dieser Beziehung. Hier ist eine Liste all der möglichen Einträge in dein aktuelles kulinarisches Repertoire:
1. Pizza (ohne Belag und mit dünner Kruste von Domino's)
2. Nudeln (mit Buttersauce oder Tomatensauce, aber nicht wenn die Tomatensauce "ekelhaft aussieht", weil sie sichtbare Klumpen Tomate in sich hat)
3. Hähnchen (nur in Form von McNuggets)
4. Hamburger (nur in Ketchup getaucht, um den abstoßenden Fleischgeschmack zu überdecken)
Für dich spricht, dass du ein großer Edamamen-Fan [grüne Sojabohnen - VP] geworden bist, und du hast noch kein einziges Mal gedünstete Broccoli verweigert, aber es ist immer schwer, dich dazu zu bringen, eine einigermaßen ausgewogene Mahlzeit zu essen.
Ein Teil des Problems ist natürlich, dass du in zwei getrennten Häusern lebst mit zwei völlig unterschiedlichen Regelwerken, was das Essen anbetrifft, aber auch sonst. Ich weiß, wie schwer es manchmal für dich sein muss, dich an die eine oder andere deiner zwei Welten anzupassen. Ich frage mich, ob es tief in dir drin einen emotionalen oder psychischen Sicherungsschalter gibt, der jedes Mal automatisch umgelegt wird, wenn du von einem Zu-Hause zum anderen springst - etwas, das dein Herz und dein Hirn umschaltet in Pappa- oder Mama-Modus, immer wenn ein Übergang kommt.
Du hast mich in letzter Zeit ein wenig über die Scheidung ausgefragt, und ich bemühe mich immer, dir nie mehr zu erzählen, als wonach du gerade gefragt hast. (Es gibt auch so etwas wie zu viel Information.) Meistens höre ich mir an, was du mir erzählst, und versuche, dich in dem zu bestärken, was du gerade fühlst. (Christus [Und das sagt ein Jude - VP] - was für ein glückliches Kind du bist!) Vielfach versage ich auch. Aber aus Gründen, die ich nicht ganz verstehe, weiß ich, dass ich seit der Trennung ein besserer Vater geworden bin.
In letzter Zeit hast du viel darüber gesagt, dass immer wenn du bei Mama bist, ein Teil von dir mich vermisst, und immer wenn du bei mir bist, ein Teil von dir deine Mama vermisst. Ich möchte dir jetzt sagen, meine Kleine (wirst du immer meine "Kleine" sein?), dass ich wünschte, es wäre anders gekommen. Wenn du dies liest, haben wir sicher schon viel mehr darüber gesprochen. Aber falls wir nicht genug geredet haben, ruf mich an oder komm rüber zu mir, wenn ich da bin, und erzähl mir, was dir auf der Seele brennt. Ich kann dich immer noch umarmen, wo immer du bist.
Ich möchte einen Moment auf diese Bob-der-sprechende-Schuh-Singer-Songwriter-Sache zurückkommen. Im Augenblick erzählst du jedem, dass du Sängerin werden willst, wenn du groß bist, und jeder sagt dir, dass du aussiehst und klingst wie dein Vater, besonders wenn du singst. Das ist alles in Ordnung und okay, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich nicht in die eine oder andere Richtung schiebe - wirklich nicht. Aber es ist komisch und wundervoll, diese Stimme zu hören, tief und reibeisenmäßig, wie sie aus deiner kleinen Kehle kommt, wie Janis Joplin, synchronisiert in einem Shirley Temple Film.
Musik bewegt dich jetzt schon. Du achtest auf die Melodie und den Text. Du wiederholst sie, manchmal nur phonetisch, aber du scheinst die Bedeutung dahinter schon zu erfassen. Manchmal sitzt du vor den Stereo-Lautsprechern, mit geschlossenen Augen, der Körper wiegt sich hin und her, wie in Trance, und du singst ohne es zu wollen die Harmonie zu einem Song, der irgendwo in dir eine Saite zum Klingen gebracht hat. Du spielst ihn immer wieder. Du singst mit, zuerst ganz still, dann immer lauter, bist du ihn im Stehen aufführst für keinen anderen als dich selbst, schließlich kommt noch eine Handchoreographie dazu. In dem Moment bist du Motowns kleine unentdeckte singende Jüdin.
Dein Lieblingslied geht im Augenblick so:
STIMME: Ich lege meine Sorgen auf den Boden
(HÄNDE: Handflächen nach unten, die nach außen drücken)
STIMME: Vor dir
(HÄNDE: Zeigefinger zeigen)
STIMME: Und spielen
(HÄNDE: Luftgitarre)
STIMME: Ich spiele nur noch ein Lied
(HÄNDE: Mehr Luftgitarre)
STIMME: Das ist meine Rettuuuuuuung
(Das letzte Wort wird laut gesungen, wobei die Hände das Herz berühren)
Heute Abend im Hotel, mit olivfarbener Haut und haselnussbraunen Augen, hast du meine Gitarre losgelassen. Du bist schnell ohnmächtig geworden, als die Wirkung des Tages draußen in den Elementen und deine Unterzuckerung sich potenzierten. Ich fing die Gitarre auf (die fast so groß ist wie du), bevor sie auf den Boden fallen konnte. Ich habe ein oder zwei Lieder gesungen, obwohl du und dein Bruder schon fest eingeschlafen waren. Ich habe zugesehen, wie deine Brust sich hob und senkte, wie du dich bemühtest zu atmen durch die ständige Lungenverstopfung. (Der Arzt sagt, das Ohr, die Nase, die Kehle, deine Mandeln sehen gut aus, aber ich wette, dass du sie nicht mehr haben wirst, wenn du dies liest.) Das Geräusch der Brandung kommt durch die offenen Fenster, und jetzt, in diesem Moment hängt keine Scheidung, keine Sorgerechtsvereinbarung, keine wechselnden Wochenenden, kein abwechselndes Weihnachtsfest in der salzigen Luft zwischen uns.
 
Übrigens: Emily Cohn hat ein hübsches Musik-Video zum Song "The Color of Monday" von Marc Cohn gedreht.
Übrigens: Marc Cohn hat für die TV-Serie "The Mind of the Married Man" einen Song namens "Emily" geschrieben.
Übrigens: Hier der Text zum Song "Emily" von Marc Cohn und die deutsche Übersetzung.
 

© April 2017 by Volker Pöhls - letztes Update April 10, 2017


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